Senegal aus Kinderaugen
Kinder erzählen und zeichnen ihren Alltag

 

«Mal ist das Wasser da, mal ist es weg», meint ein Junge. «Doch es kommt immer wieder zurück und bleibt nicht lange fort.» Während die Pirogen am Morgen noch auf dem Wasser schwimmen, suchen viele Kinder mit ihren Müttern mittags nach Miesmuscheln, die bei Ebbe auf dem schlammigen Sandboden liegen bleiben. Das Hoch- und Tiefwasser gehöre zu ihrem Leben wie die Wellen zum Atlantik, erzählt ein Mädchen. Und tatsächlich kann man zusehen, wie Ebbe und Flut kommt und geht in Fadiouth, ein kleiner Ort im flachen Wattenmeer der Mamanguedj-Lagune etwa 114 Kilometer südlich der senegalesischen Hauptstadt Dakar. Ein Dorf, das auf einer künstlich mit Muscheln aufgeschichteten Insel errichtet wurde. Daher stammt auch der Name „Île aux coquillages“, was übersetzt Muschelinsel bedeutet. Eine 800 Meter lange Holzbrücke, die nur zu Fuss überquert werden kann, verbindet die Insel mit dem Festland von Joal. Ein Junge trifft es auf den Punkt: «…wir müssten alles selber tragen, wenn es diese Männer mit ihren Rollwagen nicht gäbe.» ‚Diese Männer‘ mit Schubkarren stehen am Eingang der Brücke, um den Leuten mit jeglichen schweren Lasten zu helfen. Und auch wenn sie an manchen Tagen keine Arbeit bekommen, so bleibt ihnen immerhin der eine oder andere Wortwechsel mit den Inselbewohnern.

 

 


Ebbe und Flut in Fadiouth


Kinderalltag und wie sie ihn ausleben

Wie eine blaue Schar strömen die Kinder in ihren blauen Uniformen über die Brücke. Sie ist der einzig mögliche Schulweg zur Schule, die am Ufer auf dem Festland steht. Jeden Montag wird die neue Woche gemeinsam im Innenhof gestartet, indem ein Kind die Landesflagge hochzieht, während alle anderen Klassen im Chor dazu die senegalesische Hymne singen. «In der Schule lernen wir, den Abfall in den Abfalleimer zu tun.“, erzählt eine Drittklässlerin. «Ich glaube, weil es auf dem Boden keinen Platz mehr hat…»

 

 

Der Abfall stellt in Fadiouth leider ein alltägliches Problem dar.

 

Dem Unterricht folgen die Kinder in 40köpfigen Klassen sowie bei überdurchschnittlich hohen Temperaturen. Gegen den Mittag kann das Thermometer in den Klassenräumen bis über 38 Grad ansteigen und oft suchen die Lehrpersonen wie die Kinder die paar wenigen Wasserhähne im Hof auf. Einige sind jedoch kaputt und die anderen geben nicht immer Wasser her. Fliessendes Wasser ist keine Selbstverständlichkeit in Senegal! Auch auf der Insel nicht. Ein Junge erzählt: «Zu Hause holen wir ganz viel Wasser, mehrere Kanister voll. Das muss zum Waschen und Kochen reichen. Manchmal kommt aus dem Hahnen nämlich nichts und dann müssen wir warten, bis wieder Wasser kommt.» Viele Kinder klagen über Kopf- und Gliederschmerzen oder andere Gebrechen. Für viele Eltern ist die gesundheitliche Versorgung zu teuer, weshalb die Schulleiterin Medikamente an Schülerinnen und Schüler verteilt.

 

Die grosse Pause wird ganz unterschiedlich genutzt. Während sich viele Kinder in den Schatten zurückziehen, toben sich andere mit Fussball oder Springseilen aus. Und wieder andere unternehmen einen kleinen Spaziergang zum Verkaufsstand, wo sich bereits eine Kinderschar gebildet hat. «Wenn ich von meiner Mutter einen Geldbatzen bekomme, kann ich mir in der Pause ein Bonbon kaufen, sonst gehe ich trotzdem zur Verkäuferin, um Hallo zu sagen. Sie ist immer da, weil sie weiss, dass viele Kinder hungrig sind.»

 

 

Am Verkaufsstand vor der Schule gibt es Erdnüsse, Bonbons, Kekse und andere Süssigkeiten zu kaufen.

 

Das Inselleben auf weissen Muscheln

Schweine, Esel, Ziegen, Hühner und Pferde leben ebenso auf der Insel wie die fast 9000 Bewohner. Es ist ein Leben neben- und vor allem miteinander. «Ich helfe meiner Mutter, wenn sie unseren Esel füttert. Mein Vater nimmt ihn mit, wenn er aufs Land geht. Er meint, wir hätten Glück, dank ihm hätten wir so viel Essen. Das, was für mein Vater zu schwer ist, trägt nämlich der Esel nach Hause.» Die älteren Mädchen helfen zu Hause mit. Arbeiten im Haushalt erlernen sie schon bald. Gekocht wird gemeinsam. Couscous und Reis gibt es jeden Tag und füllen die grossen Kochtöpfe. In Senegal ist es üblich, dass miteinander aus einer grossen Platte gegessen wird. «Meine Mutter kocht immer viel zu viel! So reicht das Essen für ganz viele Leute, die dann mit uns mitessen. »

 

 

Kinder beim Thieboudienne (Reisgericht mit Fisch) essen, die traditionelle Speise in Senegal.

 

Das, was es auf der Insel nicht zu kaufen gibt, muss im nächstgelegenen grösseren Ort Joal besorgt werden. Eine einzige Strasse führt dahin, wobei der Weg weit ist und es sich lohnt, ein Taxi zu nehmen. In Joal halten auch die Taxi-Brousse, die Überlandbusse, mit welchen an andere Orte in Senegal gereist werden kann. Ein zwölfjähriger Junge kennt sie. Seine Verwandten wohnen in M‘bour, eine Stadt nördlich von Joal. «Wir müssen immer so lange warten, bis genug Leute eingestiegen sind und es keinen Platz mehr im Taxi­Brousse hat. Erst dann fahren wir los», erzählt er. «Zum Glück müssen wir nicht aufs Dach, einmal ist nämlich Gepäck hinuntergefallen.»
Der Platz ist auf der Muschelinsel begrenzt. Die Frage über Nähe und Distanz hebt sich auf, wenn es keine anderen Möglichkeiten gibt. Oft wohnen viele Personen in kleinen Wohnräumen. «Ich bin noch zu klein, um aufs Dach zu klettern. Dann gebe ich meinem grossen Bruder Steine hoch, damit er sie hinlegt, um das Dach zu flicken. Doch es regnet trotzdem ein bisschen hinein.»

 

 

Die Dächer der Häuser sind nicht immer regendicht.

 

La vie simple! – Ein bescheidenes Leben. Doch gerade aus der Einfachheit entsteht Einfallsreichtum. Ein Inselleben mag noch so einen vorgegebenen Rahmen haben, die Grenzen steckt sich jeder selbst ab. Kinder sind Meister darin aus wenig viel zu machen. Die weissen Muscheln sind für sie nicht nur Untergrund, auf dem sie gehen. Und der viele Abfall, der herumliegt, bietet weit mehr Möglichkeiten als ein „farbig getupfter Bodenschmuck“. Spielsachen zum Beispiel! Auch die Holzbrücke wird bei Hochwasser zum amüsanten Springturm oder Fischerplatz. Selbst die höchsten Palmen sind nicht hoch genug, als dass die Kinder mit ihren Kokosnüssen ihre Bäuche vollschlagen könnten. «Manchmal machen wir ein Wettrennen. Wer am schnellsten ganz oben ist, dem gehören alle Kokosnüsse, die wir herunterholen können.»

 

 

Die Kinder kreieren sich eigenhändig Spielzeuge aus einfachem Material, das herumliegt.

 

Vielen Buben kann man beim Raufen zusehen. Oder aber sie schauen den Grossen auf dem Sportplatz beim Ringen zu: La lutte! Der Ringkampf zählt als Nationalsport in Senegal. «Wenn ich gross bin und alle Kämpfe gewinne, habe ich genug Geld und kann Reis für die ganze Familie kaufen. Ich trainiere jeden Tag, weil ich stärker werden muss.» Schon in jungem Alter beginnen die ehrgeizigen Jungen ihren Vorbildern nachzueifern. Andere malen sich andere Zukunftsvisionen aus. «Ich möchte Fischer werden und mit unserer Piroge jeden Tag aufs Meer rausfahren», offenbart ein Junge. Sein Grossvater hätte sie gemacht. Er ist vor wenigen Monaten gestorben.

 

 

Pirogen (sehr schlichte Baumstammboote) sind Gang und Gäbe in Senegal. Nebst Fortbewegungsmittel auf dem Wasser dienen sie auch gut als Fischerboot. Kinder lernen früh sich mit ihnen auf dem Wasser zu bewegen.

 

«Da, wo es still ist, ist meine Schwester zu Hause! »

Eine zweite Brücke führt nordwestlich vom Dorf auf die zweite Muschelinsel Diotoyo, wo abgeschieden der Friedhof liegt. «Wenn mir meine Schwester fehlt, gehe ich auf den Friedhof», erzählt ein achtjähriges Mädchen. «Ich bin dann ganz still und sage nichts. Die anderen, die auch gerade da sind, sagen auch nichts. Meine Mutter hat mir gesagt, dass meine Schwester mich hören kann, wenn ich bei ihr bin, auch wenn sie gar nicht mehr da ist.» Mit diesem Ort soll den Verstorbenen Würde geschenkt werden. Man respektiert ihre Ruhe und behält sie dennoch als geschätzten Teil zurück; durch eine Brücke abgetrennt oder aber mit der Insel noch immer verbunden.

 

 

Der Friedhof befindet sich auf einer kleinen Insel, die mit Fadiouth durch eine Brücke verbunden ist.

Im Dorfzentrum findet täglich eine Messe in der Kirche statt. Die Mehrheit der Bewohner ist katholisch. Für die anderen gibt es östlich der Insel eine Moschee. «Ich gehe in die Kirche, um zu singen», erzählt ein Mädchen. «Wenn alle zu singen beginnen, machen wir gemeinsam ganz schöne Musik. Ich mag es, wenn ganz viele Leute mit mir mitsingen.»
Fadiouth ist eine kleine senegalesische Muschelinsel im Atlantik. Für die Kinder ist sie jedoch eine kleine grosse Welt, in welcher sie ihr alltägliches Leben ausschöpfen.

 

Ich war da und durfte daran teilhaben…

 

«Während ich die senegalesische Kultur erleben durfte, haben Kinder für mich gezeichnet und mir damit ein Stück von ihrem Alltag offenbart. Sie waren überall, die kleinen und grösseren „Zeichnungskünstlerinnen und Zeichnungskünstler“, die mir nicht nur ihre Kunstwerke zum Geschenk gemacht haben. Sie haben für mich Bilder gemalt und ich habe ihre Farbspuren mit dem Fotoapparat im alltäglichen Leben aufgespürt.

 

 

Wasser wird aus den Brunnen geholt. Manchmal müssen die gefüllten Kanister weit bis nach Hause getragen werden.

 

 

Frauen beim Kochen.

 

 

Eine einzige Holzbrücke verbindet Fadiouth mit dem Festland. Sie ist der Schulweg der Kinder.

 

 

 

Buben beim Fischen auf der Brücke.

 

 

Bei Hochwasser nutzen die Kinder die Holzbrücke als Springturm. Die heissen Temperaturen laden zu einer Abkühlung ein.

 

 

Fotos: Annina Gutmann