Nach em Rägä schiint d'Sunne
Ein stürmischer Sonntagnachmittag. Es regnet in Strömen und die Pfützen auf den Strassen werden immer grösser. An den Strassenrändern liegt Laub und alles ist wie ausgestorben. Ich scheine die einzige Person zu sein, die sich bei diesem stürmischen Wetter nach draussen getraut. Die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, komme ich im Altersheim an. Dort wartet meine Grossmutter auf mich.


Sie ist 89 Jahre alt und kommt ursprünglich aus Italien. In ihrem Leben hat sie viel erlebt. Fast bei jedem Besuch kommen wir auf ihre Heimat Italien und auf ihre Reise in die Schweiz zu sprechen. "Die Reise in die Schweiz war eine Reise ins Ungewisse. Zwei ganze Tage war ich unterwegs und ich wusste nicht, was auf mich zukommen wird!“ Mit Zuhören merke ich, dass sie die Reise in die Schweiz noch sehr genau vor Augen hat. Doch drehen wir die Zeit einmal 89 Jahre zurück.


1927 kam meine Grossmutter zur Welt. Im Trentino, einer Region in Norditalien wuchs sie auf einem kleinen Bauernhof auf. Meine Grossmutter hatte eine glückliche Jugend. Ihre Familie lebte zwar sehr einfach und bescheiden, doch die Familie hatte ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen. Oft erzählt meine Grossmutter von lustigen Erlebnissen und Streichen, die sie damals gespielt hatten. Nach der 5. Klasse konnte meine Grossmutter die Schule nicht weiter besuchen und sie musste arbeiten.


Als 1939 der Krieg kam, änderte sich das Leben meiner Grossmutter schlagartig. Bomben- und Flieger­alarme verbreiteten Angst und Schrecken. Die Nahrung wurde knapper und die Preise schossen in die Höhe. An Arbeit mit einem anständigen Lohn war nicht zu denken. Meine Grossmutter und ihre Familie lebten in ständiger Angst und Ungewissheit.


1945 – der Krieg war zu Ende und die Zerstörung gross. Viele Gebäude ähnelten nur noch Ruinen. Nahrung war nach wie vor sehr knapp und teuer und eine fair bezahlte Arbeit zu finden war unmöglich.


Ein Blick in die Schweiz: Die Schweiz blieb zwar von Bombeneinschlägen verschont, doch auch hier waren Nahrungsmittel und an­dere Güter kaum zahlbar und nur knapp verfüg­bar. Doch es herrschte Auf­bruchsstimmung und günstige Arbeitskräfte waren gesucht. Für die Italienerinnen war dies eine Chance. Sie fanden in der Schweiz Arbeit und bekamen einen anständigen Lohn. So machten sich viele Italienerinnen auf den Weg in die Schweiz. Unter ihnen war auch meine Grossmutter.


Die Reise in die Schweiz war anstrengend und kompliziert. Als erstes musste meine Grossmutter ihren Strafauszug holen. Leute, die einen Eintrag darin hatten, durften nicht in die Schweiz reisen. Ausserdem mussten die Italienerinnen 18 Jahre alt sein, um als Dienstmädchen in der Schweiz arbeiten zu können. Es war keine Seltenheit, dass Pässe gefälscht wurden, damit jüngere Frauen ausreisen konn­ten. Meine Grossmutter war 19 Jahre alt, als sie sich auf den Weg machte. Mit vielen anderen Italienerinnen fuhr sie mit dem Zug nach Mailand und weiter nach Chiasso an die Grenze. Bevor die jungen Frauen wei­terreisen durften, wurden sie untersucht. Sie wurden in eine grosse Halle gebracht und mussten sich duschen. Nur mit einer Militärdecke bedeckt mussten die Frauen warten, bis sie von einem Arzt untersucht wurden. Es war nur gesunden und arbeitsfähigen Frauen erlaubt, weiter zu reisen. Dieser Untersuch war für meine Grossmutter etwas vom Schlimmsten. "Wir standen in Reihen an und warteten. Wir wussten nicht, was passieren wird. Beim Untersuch mussten wir die Decke ablegen und nackt vor den Ärzten stehen. Das war uns allen sehr peinlich und unangenehm. Eine nach der anderen wurde kontrolliert. Ich hatte Glück und durfte nach dem Untersuch die Reise fortsetzen. Eine Frau vor mir wurde wieder heimgeschickt. Sie weinte und sie tat mir sehr leid. Ich weiss nicht, was mit ihr passiert ist." Noch heute denkt meine Grossmutter oft an diese ihr unbekannte Frau.


Die Reise meiner Grossmutter ging weiter nach Luzern. Am Bahnhof wurde sie von ihrem Gastvater abgeholt. Schnell lebte sich meine Grossmutter in ihrer Gastfamilie ein. Sie half beim Kochen, Waschen und Putzen und schaute zu den Kindern. Dass der Chef meiner Nonna ein wenig italienisch sprach, half ihr sehr. Auch wenn der Alltag streng und die Arbeitstage lang waren, ging es ihr gut. Sie hatte immer etwas zu essen, ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit mit einem anständigen Lohn. Sie fühlte sich akzeptiert, auch wenn sie als italienisches Dienstmädchen oft „Tschinggeli“ genannt wurde.


Einige Jahre später kam in der Schweiz die Fabrikarbeit auf. Die Fabrikarbeit wurde besser bezahlt als die Arbeit in den Haushalten. So entschied sich meine Grossmutter, in einer Spinnerei zu arbeiten. Die Arbeit in der Fabrik war sehr hart und die Tage waren lang. Doch die Fabrikarbeit hatte auch etwas Gutes. Meine Gross­mutter lernte viele Leute kennen. So be­gegnete sie bei der Arbeit auch meinem Grossvater. Sie verliebte sich in ihn und entschied sich, bei ihm in der Schweiz zu bleiben. 70 Jahre lebt meine Nonna nun in der Schweiz. Sie fühlt sich hier wohl und daheim. Doch ihre Heimat Italien behält sie immer in ihrem Herzen.


Das war sie also, die Geschichte einer Italienerin, die nach dem Krieg in die Schweiz reiste. Meine Grossmutter hat mir viele Ereignisse bis ins Detail genauestens erzählt. Die Erinnerungen an ihre Kind­heit und Jugend, die Reise in die Schweiz und die ersten Jahre als „Tschinggeli“ in ihrer neuen Heimat sind lebendig wie eh und je.


Seit bald zwei Stunden sitze ich bei meiner Grossmutter auf dem Sofa. Jetzt ist es gerade gemütlich geworden, doch ich muss mich schon wieder auf den Heimweg machen. Der Regen hat in der Zwischenzeit nachgelassen. Der Wind hat sich gelegt und hinter den Wolken sind ein paar Sonnen­strahlen zu erkennen. Die Redensart „Nach em Rägä schiint d’Sunne …“ bestätigt sich beim Wetter, wie auch in der Lebensgeschichte meiner Grossmutter.