Nach meinem Tod
Ich habe mich immer gefragt, wie es wohl wäre, wenn man tot wäre und unsichtbar für alle Lebendigen die Welt beobachten könnte. Würden die Leute, die ich liebe, um mich trauern? Wie würden sie ihr Leben weiterführen? Würde mein Tod überhaupt etwas ändern?


Ich fühle mich ausgebrannt, irgendwie ohne Energie. Alles, was ich tun muss, bereitet mir unglaublich viel Mühe. Und ich habe ununterbrochen Kopfschmerzen, schon seit mehreren Wochen. Ich weiss nicht, was genau los ist. Ich bin eigentlich nicht unglücklich. Ich habe alles, was ich brauche, um glücklich zu sein. Ich kann zur Schule gehen, ich habe eine Familie, ich habe Freunde, ich habe Hobbies und ich habe einen Freund, den ich über alles liebe. Und doch. Es fehlt etwas. Irgendwo in mir ist ein Loch. Ein Loch, das ich von früher kenne, von dem ich aber dachte, dass es längst verschwunden ist, dass ich es gefüllt habe. Offensichtlich nicht. Ich habe Panik. Ich habe so unglaubliche Angst, dass ich das irgendwann nicht mehr aushalte und einen Weg suche, dieses Loch zu füllen. Denn dieser Weg wird auf jeden Fall der falsche sein.

 

Ich liege im Bett, schon seit Tagen. Gehe nicht zur Schule, weil ich krank bin. Doch bin ich wirklich krank? Ich weiss es nicht. Wirklich nicht. Es fühlt sich so an, ja, ich habe Kopfschmerzen und fühle mich unglaublich schwach. Doch was, wenn das nichts mit meiner Gesundheit zu tun hat? Ich habe wirklich Angst. Angst vor diesem Leben.


Ich schaue auf meinen Wecker. 21 Uhr. Mein Freud sollte bald kommen. Heute ist Freitag, also Wochenende. Deshalb hat Yannick gesagt, er schlafe heute bei mir. Fünf Minuten später klingelt es an der Tür und ich höre, wie mein Stiefbruder sie öffnet. Man hört noch kurz das Brummen ihrer Stimme, während die zwei sich unterhalten. Dann die Schritte auf der Treppe als Yannick hochläuft.
Als er die Tür zu meinem Zimmer aufstösst, strahlt er mich an. Ich strahle zurück. Bin glücklich. Endlich. Ich habe mich so alleine gefühlt, ohne ihn. Aber jetzt ist er da. Er legt sich zu mir ins Bett und nimmt mich in den Arm. So liegen wir eine Weile und reden über seinen Tag, meinen Tag, über die Ferien, über die Schule… eigentlich über so ziemlich alles, über das man so reden kann.
Als wir dann später ins Bad gehen, um uns die Zähne zu putzen, wird mir auf einmal schwindlig. Ich schwanke. Doch nach ein paar Sekunden ist es wieder vorbei. Yannick hat nichts bemerkt.
Als wir im Badezimmer sind, nimmt er mich in den Arm und küsst mich. Ein schöner Kuss. Danach nimmt er die Zahnbürste, die er bei mir deponiert hat und beginnt sich die Zähne zu putzen. Ich nehme meine Zahnbürste hervor und tue dasselbe. Als wir fertig sind, setzt er sich auf den Stuhl neben der Dusche und nimmt sein Handy hervor. Ich bürste mir die Haare und binde sie zu einem Zopf. Danach beginne ich mich abzuschminken. Schon wieder wird mir schwindlig. Diesmal hält dies ein bisschen länger an. Ich gehe in die Knie, damit es besser wird. Auf die Frage «Was zur Hölle machst du da?», antworte ich: «Mir war nur kurz ein wenig schwindlig. Geht schon wieder», und drücke ihm einen Kuss auf die Wange, bevor ich mich wieder meinem Gesicht widme. Ich rubble mein Gesicht mit einem feuchten Tuch ab, um die Schminke wegzubekommen. Als ich die Augen wieder aufmache und mich selbst im Spiegel betrachte, verschwimmt das Bild plötzlich. Und alles wird schwarz, ich sehe nichts mehr. Das letzte, was ich noch mitbekomme, ist, dass ich falle.


Als ich wieder aufstehe, sehe ich mich selbst am Boden liegen.


Yannick kniet neben meinem Körper. Er schüttelt mich, ohrfeigt mich, lehrt mir Wasser über den Kopf. Mein Körper regt sich kein bisschen. Ich weiss nicht, wie lange es dauert, bis Yannick begreift, dass mein Körper sich wohl nie wieder eigenhändig bewegen wird. Fünf Minuten? Zehn? Eine halbe Stunde? Ich kann es wirklich nicht sagen. Das einzige, was ich sehen kann, ist sein Blick, als er es endlich begreift. Ich habe noch nie in meinem ganzen Leben so viel Schmerz in einem Blick gesehen. Er weint nicht einmal. Dafür bleibt keine Kraft. Er bricht über mir zusammen, bleibt einfach liegen. Eine ganze Weile lang.


Als er sich wieder aufrichtet, nimmt er sein Handy, dass ihm davor, ohne dass er es auch nur ein kleinstes bisschen wahrgenommen hätte, zu Boden gefallen ist, in die Hand und wählt die Nummer von zu Hause. Seine Schwester geht ran: «Hallo?», sagt sie mit sanfter Stimme. Worauf er, mit einer Stimme, die man kaum eine Stimme nennen kann, antwortet und nach seiner Mutter fragt. Auf der anderen Seite der Leitung raschelt es kurz, dann hört man die Stimme seiner Mutter: «Was ist los, mein Schatz?» Jetzt laufen ihm doch Tränen die Wange runter. Ganz still und unbemerkt. «Mama», beginnt er mit von Schmerz brechender Stimme, «Ich weiss nicht, was ich tun soll. Wie soll ich so weiterleben? Wie? Ohne sie?» Man hört wie seine Mutter geschockt Luft holt. «Schatz, geht es um Clara? Was ist mit ihr passiert?!», drängt sie. «Sie ist…», beginnt Yannick, «Sie hat aufgehört zu …», stottert er weiter, «sie atmet nicht mehr», platzt es aus ihm heraus.


Ein paar Tage vergehen, in denen Yannick die Hölle auf Erden erlebt. Erst muss er seiner Familie alles erklären, dann meiner, am Schluss noch den Ärzten. Er wird immer wieder durch das Erlebnis geführt, muss immer wieder alles durchleben. Bis er nur noch dasitzt und nichts tun kann. Keine Kraft, keine Motivation, kein Grund.


Ich bin ihm die ganzen Tage durch gefolgt. Habe mit ihm geweint, gelitten. Jetzt sitzt er auf seinem Bett. Alleine. Ich setze mich zu ihm. Nehme seine Hand. Als ob er meine Hand gespürt hätte, zuckt er im selben Moment zusammen. Dann sitzt er wieder still da. Es scheint, als ob er an nichts denkt. Als ob er alle Gedanken aus seinem Kopf verbannt hatte und einfach nur noch atmet. Seine Augen sehen fast so leer aus wie die meines leblosen Körpers.


Seine Mutter kommt ins Zimmer und setzt sich neben ihn aufs Bett. Dorthin, wo ich eigentlich sitze. Sie spürt nichts. Ich auch nicht. Jetzt nimmt sie ihn in den Arm, doch er zeigt keinerlei Anzeichen, dass er sie überhaupt wahrgenommen hat. Eine Weile bleibt sie so da sitzen.


Irgendwann, ganz plötzlich, scheint Yannick sie zu bemerken. Er schaut sie wortlos an, mit einem so schmerzverzerrten Blick in den Augen, dass ich es kaum ertragen kann. Dann neigt er sich langsam zur Seite und legt seinen Kopf auf ihren Schoss. So verbleiben sie eine gefühlte Ewigkeit. Bis er irgendwann beginnt, ruhiger zu atmen und einschläft.


Es tut so weh, ihn so zu sehen. Es tut so tausendmal mehr weh als sterben.

Bild: Isabell Schnell, jugendfotos.org